E. Biçer-Deveci: Osmanisch-türkische Frauenbewegung

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Titel
Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen. Eine Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte von 1895 bis 1935


Autor(en)
Biçer-Deveci, Elife
Reihe
Ottoman Studies / Osmanistische Studien 4
Erschienen
Göttingen 2017: V&R unipress
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 40,00
URL
von
Ulrich Brandenburg, Asien-Orient-Institut, Universität Zürich

Ausgehend vom Ansatz der «Entangled History», untersucht Elife Biçer-Deveci in ihrer hier besprochenen Berner Dissertationsschrift drei türkischsprachige Frauenzeitschriften aus der Zeit des späten Osmanischen Reichs und der frühen Republik Türkei. Sie zeigt auf, wie osmanisch-türkische Feminismusvorstellungen oft in direktem Bezug bzw. in Abgrenzung zum Westen formuliert wurden. Umgekehrt war für internationale Frauenorganisationen «der Orient» als Ort der Frauenunterdrückung ein wichtiges Referenzobjekt. Biçer-Deveci hinterfragt in diesem Zusammenhang, inwieweit euro-amerikanische Feministinnen tatsächlich durch Denkmuster geprägt waren, welche die Forschungsliteratur prägnant als «feministischen Orientalismus» bezeichnet hat. Überzeugend weist die Autorin auf zeitgenössische Dekonstruktionen orientalistischer Vorurteile hin (z. B. S. 117 f.) und argumentiert, dass das Bild eines rückständigen Orients sowohl von osmanisch-türkischer als auch von euro-amerikanischer Seite gezielt und zweckbewusst eingesetzt wurde (S. 200).

Die Einleitung des Buchs bietet neben theoretischen und methodischen Erläuterungen eine hilfreiche Aufarbeitung der türkischsprachigen Forschung zur osmanisch-türkischen Frauenbewegung. Das folgende Kapitel 1 gibt einen historischen Überblick, der jedoch stärker auf die Fragestellungen der Studie hätte ausgerichtet werden können und in dieser Form zu lang wirkt. Die zentralen Kapitel 2–4 widmen sich der inhaltlichen Analyse der drei in Istanbul veröffentlichten Zeitschriften Hanımlara Mahsus Gazete (1895–1908), Kadınlar Dünyası (1913–1921) und Türk Kadın Yolu (1925–1927). Kapitel 5 betrachtet die Beziehungen internationaler feministischen Organisationen zum Osmanischen Reich respektive zur Türkei. Das abschliessende Kapitel 6 fasst die Ergebnisse zusammen.

Die betrachteten Zeitschriften erschienen in den distinkten Zeiträumen der autokratischen Herrschaft Abdülhamids II., der konstitutionellen Monarchie (İ kinci Meşrutiyet) sowie der Anfangsjahre der Republik und erlauben so aussagekräftige Beobachtungen hinsichtlich der Konstanten und Veränderungen im Emanzipationsdiskurs. Interessant ist, dass die Hanımlara Mahsus Gazete trotz der Pressezensur unter Abdülhamid ein vielfältigeres Meinungsspektrum bot als die beiden anderen Zeitschriften, die jeweils im Umfeld zentralisierender Regierungsprojekte anzusiedeln sind. Aufschlussreich ist Biçer-Devecis Bemerkung zum Doppelsinn des Begriffs terakki, einerseits als Fortschritt und andererseits als Emanzipation (S. 65), was die enge Verbindung von Feminismus und gesellschaftlicher Modernisierung im Osmanischen Reich und der Türkei illustriert. Im Gegensatz zur Hanımlara Mahsus Gazete erschienen Kadınlar Dünyası und Türk Kadın Yolu bereits als Organe von Frauenvereinen, die sich aktiv um Kontakte zu feministischen Organisationen im Ausland bemühten. Schlüsselfiguren in der internationalen Vernetzung waren Aktivistinnen, die in Opposition zu Abdülhamid im europäischen Exil gelebt und gewirkt hatten. Auch amerikanische Missionarinnen nahmen über ihre Bildungseinrichtungen in Istanbul und mit ihren Berichten über die Situation vor Ort eine wichtige Mittlerfunktion ein (S. 69). Jedoch wurde erst 1926 der Türkische Frauenbund (Türk Kadinlar Birliği), Herausgeber des Türk Kadın Yolu, Mitglied einer internationalen Organisation. Dieser Schritt sei, wie Biçer-Deveci hervorhebt, als Teil des Strebens der jungen Republik Türkei nach internationaler Anerkennung anzusehen (S. 223).

Biçer-Devecis Studie zeichnet sich durch eine quellengestützte Argumentation aus, welche die besprochenen Texte regelmässig selbst zu Wort kommen lässt. Eine nicht zu unterschätzende Leistung ist die Begleitung übersetzter Zitate durch eine Umschrift des osmanisch-türkischen Originals ins moderne Türkisch. Erhellend in Bezug auf die Funktion der osmanischen Presse ist die Feststellung, dass die Hanımlara Mahsus Gazete auch als Mittel zur sozialen Vernetzung diente und beispielsweise Kontakte zwischen Europäerinnen und osmanischen Feministinnen ermöglichte (S. 104). Der Ansatz der «Entangled History» hätte meines Erachtens aber noch gewinnbringender sein können, wenn Biçer-Deveci «Europa» bzw. den «Westen» nicht als Einheit dem Osmanischen Reich bzw. der Türkei gegenübergestellt hätte. Die zitierten Quellen selbst offenbaren oft in stärker differenzierter Weise eine Orientierung an Frankreich, das dann mit anderen europäischen Ländern kontrastiert wurde (S. 82, 87). Überraschend ist, wie häufig die osmanisch-türkischen Stimmen auf die Schweiz Bezug nahmen, die «als idealer sittlicher Ort für einen [Studien‐]Aufenthalt muslimischer Frauen» (S. 134) beschrieben wurde oder deren Massnahmen gegen den Alkoholkonsum von Müttern problematisiert wurden (S. 162).

Problematisch ist im Osmanisch-Türkischen aufgrund der Mehrdeutigkeit des arabischen Alphabets die Identifikation von Personennamen. Anstatt jedoch die Problematik möglicher Lesungen zu thematisieren, priorisiert Biçer-Deveci bei den ihr unbekannten Namen eine spekulative Schreibweise, die in mehreren Fällen nicht zutreffend ist. So verbirgt sich hinter «Ellen Kostar» die amerikanische Feministin J. Ellen Foster, «Henriette Hevernique» ist als Henriette Hornik zu identifizieren, und «Margrit Caulra» schriebe sich richtig Marguerite Colrat. Im Falle von «Dorani Montilla» liesse sich spekulieren, ob hier nicht eine im Drucksatz fehlerhafte Schreibung der Journalistin Marguerite Durand vorliegt.

Trotz der angemerkten Schwächen hat Biçer-Deveci eine erkenntnisreiche Grundlagenstudie zum Emanzipationsdiskurs im Osmanischen Reich und der frühen Republik Türkei vorgelegt, die zahlreiche Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung bieten dürfte.

Zitierweise:
Brandenburg, Ulrich: Rezension zu: Biçer-Deveci, Elife: Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen. Eine Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte von 1895 bis 1935, Göttingen 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 377-379. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.